Pius XI

Das Projekt wurde im Jahr 2008 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kirchengeschichte der Universität Wien (Univ.-Prof. Dr. Rupert Klieber) ins Leben gerufen und widmet sich der koordinierten und systematischen Auswertung der 2006 neu zugänglich gewordenen Quellenbestände des vatikanischen Geheimarchivs zum Pontifikat Pius XI. (1922–1939) mit Bezug auf Österreich.

Pius XI. setzte als „politischer“ Papst – gemeinsam mit den Kardinal-Staatssekretären Pietro Gasparri (1914–1930) und Eugenio Pacelli (1930–1939) – wichtige Impulse, die bis heute nachwirken, beispielsweise die Lateran-Verträge mit Italien oder das Konkordat 1933 mit der Republik Österreich. Für Österreich hat die Auswertung der neuen Quellen unter anderem im Blick auf die Personalpolitik – hinsichtlich der Ernennung von Bischöfen und Äbten – große Bedeutung. Besonders eng waren die Beziehungen zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl unter den Bundeskanzlern Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuss. Aus der Fülle der behandelten Themen seien genannt: Der Ausbau des katholischen Schulwesens, die christliche Erziehung der Jugend, die Gründung einer katholischen Universität in Salzburg, Eheangelegenheiten, das Drängen der vatikanischen Diplomatie zu einer Vereinigung der katholisch-konservativen Kräfte im Kampf gegen Bolschewismus und Sozialismus sowie der Ausbau der katholischen Laienbewegung. Eine besondere Qualität erhielten die Beziehungen nach dem Abschluss des Konkordats und der Errichtung des „Ständestaats“. Die ideologische Allianz zwischen dem Dollfuss-Regime und der katholischen Kirche wurde in allen gesellschaftlichen Bereichen deutlich. Die Ereignisse rund um die Ermordung von Dollfuss und die Tätigkeit der Regierung Schuschnigg wurden von der vatikanischen Diplomatie genau beobachtet. Die Militarisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens beurteilte man skeptisch und verurteilte den Republikanischen Schutzbund, zu einer Distanzierung von den Heimwehren konnte man sich in der römischen Kurie aber nicht durchringen. Die an der Politik des Ständestaats orientierten Berichte von Nuntius Sibilia werden unter seinem Nachfolger Cicognani von neutraleren und distanzierteren Betrachtungen abgelöst. Cicognani berichtet ausführlich über das Juliabkommen zwischen Schuschnigg und Hitler sowie über die Konsultationen zwischen österreichischen und italienischen Regierungsvertretern. Den Initiativen der Regierung Schuschnigg und der Vaterländischen Front zur Förderung des Österreichpatriotismus – ausgehend von einem Memorandum der Vatikanbotschaft aus dem Jahr 1935 über die Bedeutung der Vaterländischen Front und der ständestaatlichen Verfassung für das Österreichbewusstsein – widmete Nuntius Cicognani breiten Raum. Das ambivalente Verhältnis der katholischen Kirche zum Nationalsoszialismus und die Gespaltenheit der Amtsträger in dieser Frage wird in vielen Dokumenten deutlich – bis hin zum „Anschluss“ und der darauffolgenden „Feierlichen Erklärung“ des österreichischen Episkopats.

Neben den reichen Aktenbeständen im Apostolischen Archiv kommt vor allem der „Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten“ (Congregazione per gli affari ecclesiastici straordinari“) des Staatssekretariats als zentralem Beratungsgremium des Papstes in außenpolitischen Angelegenheiten für diese Thematik große Bedeutung zu. Ihr Aufgabenbereich umfasst die Beziehungen zu den Staaten, also die gesamte vatikanische Diplomatie, und die päpstliche Außenpolitik. Die „Affari Ecclesiastici“ sind daher unter dem Pontifikat Pius’ XI. der wichtigste Archivbestand für das Verhältnis von Kirche und Staat. In diesem Archiv sind der größte Teil der politischen Berichte abgelegt, weiters die Weisungen des Staatssekretärs an die Nuntien sowie die politische Korrespondenz mit der Vatikanbotschaft, mit Regierungsstellen und mit den Diözesanbischöfen. Da die Übergänge zu den Agenden des Staatssekretariats fließend sind, finden sich in den ‚Affari Ecclesiastici’ zahlreiche aus heutiger Sicht als innerkirchlich zu betrachtende Gegenstände. Gleichzeitig sind auch im Staatssekretariat (Apostolisches Archiv) Aktenstücke zu politischen Belangen zu finden, die für eine abgerundete historische Bewertung heranzuziehen sind. Aufgrund der langen Amtszeit von Nuntius Enrico Sibilia (1923–1935) zeigt sich eine große Kontinuität im Verhältnis zwischen Wien und dem Hl. Stuhl. Allerdings hatte sein Einsatz für die Etablierung des Ständestaates – er stand Dollfuss sehr nahe – zur Folge, dass andere Informationskanäle abseits der Nuntiatur bedeutender wurden. Trotz der kurzen Amtszeit von Sibilias Nachfolger Gaetano Cicognani, von 1936 bis 1938, ist diese Periode besonders reich an politisch relevanten Berichten.

Die Arbeiten des Projekts werden von mehreren Seiten maßgeblich unterstützt. Eine wichtige Förderschiene stellen die Forschungsstipendien der Akademie der Wissenschaften für Aufenthalte am Österreichischen Historischen Institut in Rom dar, die in den vergangenen Jahren mehrfach genutzt wurden, vor allem von Jürgen Steinmair, Johannes Schwaiger, Peter Rohrbacher und Bernhard Kronegger.

Bernhard Kronegger bereitet im Auftrag des Österreichischen Historischen Instituts eine digitale Dokumentenedition vor. Ausgehend von den Nuntiaturberichten wurden die zentralen Dokumente des Pontifikats in Hinblick auf die Republik Österreich ausgewählt. Sie werden derzeit mit einem wissenschaftlichen Kommentar versehen und digital aufbereitet. Dies erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem ACDH (Austrian Centre for Digital Humanities) der ÖAW in Fortsetzung der bereits in Realisierung befindlichen digitalen Edition der „Grazer Nuntiatur“. Als Beispieldokumente angeführt seien hier ein Bericht von Kardinal Innitzer in Beantwortung einer Anfrage zum Bund „Neuland“ sowie ein Briefentwurf von Staatssekretär Pacelli an Nuntius Sibillia, über das Verhältnis des österreichischen Klerus zum Nationalsozialismus.

 

Beispieldokumente:

https://nuntiaturberichte.github.io/nbr-pius-xi-static/index.html

Forschungsergebnisse:

Pdf Andreas Gottsmann, „Warum lässt uns der Hl. Stuhl im Stich?“. Die vatikanische Haltung zur Regierung Schuschnigg hinsichtlich Restauration und staatlicher Selbstständigkeit RHM 55 (2013).

Pdf Andreas Gottsmann, Die Gleichschaltung der Jugendorganisationen im autoritären Regime der Jahre 1934–1938. RHM 62 (2020).

Pdf Andreas Gottsmann, Gasparri e l’Austria: una relazione privilegiata? in Il cardinale Pietro Gasparri, segretario di Stato (1914–1930) a cura di Laura Pettinaroli e Massimiliano Valente (Heidelberg 2020)
http://www.oehirom.it/de/sites/default/files/Die%20Gleichschaltung%20der...